Paul Richter (1875-1950)

Paul Richter wurde 1875 in Kronstadt/Siebenbürgen (heute Rumänien) geboren. Früh begann er auf dem Klavier zu improvisieren und konnte bald den Vater, der nebenberuflich Organist war, vertreten. Erste kleine Kompositionen entstanden. Für einen Klavier- oder gar Theorielehrer fehlte im Hause Richter jedoch offensichtlich das Geld, so dass Pauls Talent erst Anfang der 1890er Jahre vom Kronstädter Komponisten und Kantor Rudolf Lassel entdeckt wurde. Lassel war es auch, der Richter auf das Studium an der Leipziger Musikhochschule vorbereitete. Grund für eine Verbitterung, die Richter Zeit seines Lebens nicht loslies, war in erster Linie eine Entscheidung: Nach der Leipziger Studienzeit 1896-1899 hatte sich Richter schweren Herzens entschlossen, in die Heimat zurück zu kehren, obwohl er in Leipzig wohl Aufstiegschancen gehabt hätte: Er leitete dort den "Weltlichen Oratorienchor" so erfolgreich, dass ihm die Stelle während des Militärdienstes frei gehalten wurde. Statt dessen wurde er am 4. September 1899 zweiter Chormeister des Kronstädter Männergesangvereins, bald auch erster Chormeister. In Kronstadt dagegen, so glaubte Richter, wurde sein Talent unterschätzt.

 

Vor allem um das Kronstädter Musikleben hat sich Paul Richter unschätzbare Verdienste erworben: Er holte Richard Strauss, George Enescu und Felix Weingartner ans Pult der Kronstädter Philharmonie, die er auf ein beachtliches Niveau gehoben hatte. Er scheute nicht vor dem Wagnis zurück, Wagners "Fliegenden Holländer" oder Bruckners achte Sinfonie aufzuführen. Damit trug er ganz wesentlich dazu bei, die Musik in Kronstadt ab Ende des 19. Jahrhunderts auf eine vorher nie da gewesene Höhe zu bringen. 1918 wurde Richter als Nachfolger Alfred Nowaks zum Stadtkapellmeister gewählt, 1928 wurde ihm der in Rumänien begehrte Titel eines Generalmusikdirektors verliehen. Inzwischen fühlte er sich in seiner Heimatstadt offensichtlich so bestätigt, dass er 1929 sogar das Angebot ablehnte, die Leitung einer Meisterklasse für Komposition in Dresden zu übernehmen.

 

Obwohl Richter - wie seine zahllosen Jux-, Spass- und Trinklieder belegen - Humor hatte und feiern konnte, war sein Charakter ebenso von Schwerblütigkeit bestimmt, für die auch seine bisweilen prekäre finanzielle Situation verantwortlich war. 1935 wurde Paul Richter die höchste Ehrung zuteil, auf die ein siebenbürgisch-sächsischer Musiker hoffen durfte: Er wurde zum Leiter des Hermannstädter (Hermannstadt/Sibiu in Siebenbürgen) Musikvereins Hermania ernannt, der nach Zusammenschluss des Hermannstädter Musikvereins und des Männerchors Hermania entstanden war. Richter ging es gesundheitlich indes schlecht, so dass er den neuen Posten bereits 1936 aufgeben musste. Am 6. Juni 1936 trat er zum letzten Mal öffentlich in seiner Vaterstadt auf. Nach schwerster Krankheit starb er 1950.

 

Der Werkkatalog Richters umfasst viele Chor- und Klavierlieder wie kammermusikalische Kompositionen für verschiedenste Besetzungen und einige Klavier- und Orgelwerke. Im Grunde seines Herzens aber war Paul Richter ein Sinfoniker, der gerne mit großen Formen und Orchesterbesetzungen umging. Seine Behandlung der Harmonie ist spätromantisch, gelegentlich unternimmt Richter Ausflüge in die Pentatonik. Ausgefeilten Klangeffekten und Harmonien gibt er oft den Vorzug vor kontrapunktischer Arbeit.

 

Während der Musikwochen Löwenstein aufgeführt:

 

Das 1931 entstandene Trio g-Moll op. 86 ist Richters anspruchsvollstes und wohl bestes Kammermusikwerk. Im ersten Satz durchdringen sich Sonaten- und Liedform auf originelle Weise, trotzdem ist der Satz von größter formaler Geschlossenheit. Der zweite Satz schwelgt in melodischer Entfaltung der Streicher, dem Klavier fällt mehr eine harmonisch unterstützende Begleitfunktion zu. Besonders charakteristisch am Finale ist das einstimmige pentatonische Einleitungsthema. Auch Richters Klavierlieder sind durchaus anspruchsvoll. Sie sind geprägt von einer einfühlsamen musikalischen Ausdeutung der Texte und reichen pianistischen Klangfarben. Während das Lied "Ganz still zuweilen" op. 84,8 vorwiegend deklamatorisch komponiert ist und jede Texteinzelheit betont, überwiegt in "Trübe Antwort" op. 84,9 (1924) und "Tal am Abend" op. 84,6 (1931) der liedhafte Charakter. "Es fallen Blüten" op. 103,5 (1936) wird von ostinaten Wechselfiguren bestimmt, die im Mittelteil harmonischer Figuration weichen. Am Schluss steht eine gewaltige Steigerung. Im "Lied" op. 104,1 (1935) herrscht eine schlichte quartettmäßige Begleitung vor, die mit Melodiemotiven durchsetzt ist. Das in Dur beginnende Lied endet dem Text entsprechend ("geht in die Nächte und weint") in Moll.

 

Mit den Meditationen op. 90 (1931) griff er nach mehr als 40 Jahren wieder auf die Kombination Violine - Klavier zurück. Der in D-Dur stehende Andante-Satz ist "Dem Verein der Siebenbürger Sachsen in Wien zu seinem 60. Stiftungsfeste als kleine Gabe gewidmet" und bringt nach einer fantasieartigen, zweiteilig gestalteten Einleitung freie Variationen über das volkstümliche Lied "Sangtichsglock" (Sonntagsglocke). Eine kurze Coda beschließt das Stück, das sich durch eine farbige Harmonik auszeichnet.

 

Die Violinsonate op. 89 C-Dur (1935) ist neben einer Orgelsonate die einzige Sonate Richters. Formal folgt die Sonate mit ihren vier Sätzen dem klassischen Schema, jedoch liegt bereits dem ersten Satz (Allegro) keine strenge Sonatenform zugrunde. Durch eine Vielzahl von Themen gewinnt der Satz den Charakter einer Fantasie - Richter lässt der Inspiration freien Lauf. Im zweiten Satz (Andante) fesselt vor allem der Mittelteil, in dem beide Instrumente über einer synkopierten Akkordbegleitung einen freien Dialog entfalten. Der dritte Satz (Allegro scherzando) ist mit seinen weit ausladenden Punktierungen und der großen dreiteiligen Anlage von sinfonischem Zuschnitt. Der vierte Satz (Allegro marciale) lässt sich keiner bestimmten Form zuordnen, auffällig sind vor allem die raffinierten Durchführungsteile.

 

Hans Peter Türk / Johannes Killyen